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Sonntag, 3. Mai 2015

Immerath (Erkelenz)...das Ende naht...01.05.2015...VII. / Hier: "Vor dem Verschwinden"...

Immerath (Erkelenz)...das Ende naht...01.05.2015...VII. / 
"Vor dem Verschwinden"...

...abschließende Fortsetzung der kleinen Rundgangs-Bilderserie vom 01.05.2015...








Bei der Suche nach Informationen über Immerath bin ich dann noch auf einen ein wenig älteren Artikel in der NZZ gestoßen...

...den ich wirklich in Gänze lesenswert finde...betreffend direkt zwar Otzenrath...aber sicherlich sehr gut das Dilemma einer sog. "Umsiedlung" -auch in Immerath- beschreibend...






Vor dem Verschwinden

Sonntags kommen die Fremden und bestaunen das Nichts. Sie kommen aus den Städten, wo die Sonntage noch unerträglicher sind als die Werktage, sie kommen aus Mönchengladbach, aus Aachen, sie kommen von jenseits der nahen Grenze, aus Holland, kommen im Familienwagen...

14.9.2002

Sonntags kommen die Fremden und bestaunen das Nichts. Sie kommen aus den Städten, wo die Sonntage noch unerträglicher sind als die Werktage, sie kommen aus Mönchengladbach, aus Aachen, sie kommen von jenseits der nahen Grenze, aus Holland, kommen im Familienwagen, in klimatisierten Bussen. Sie laufen über den rissigen Lehmboden, vorbei an Pumpstationen, die Lärmfanfare der nahen Autobahn wischt über das Land. Dann stehen sie, mit blassen Stadtbeinen, zwischen Kamille und Kletten, am Rande des Nichts.

Hier am Niederrhein kommt die Landschaft ohne Extravaganzen aus, ist flach wie ein ausgerollter Hefeteig. Die einzige Erhebung weit und breit - eine Abraumhalde; sie liegt zwischen Kartoffel- und Rübenfeldern wie ein wütender Meteorit. In einem gigantischen Loch, etwa zwanzig Quadratkilometer lang und breit, arbeitet in einer Tiefe von zweihundert Metern Tag und Nacht ein Schaufelradbagger, von dem es heisst, er sei der grösste der Welt. Zweihundertvierzig Meter lang, fast einhundert Meter hoch, tägliche Förderleistung: zweihundertvierzigtausend Kubikmeter, so beisst er sich durch Sand, Kies und Löss. Am Horizont stehen Kohlekraftwerke, Dampf steigt aus den Schloten, steigt wie eine geballte Faust gegen den Himmel von verwaschenem Blau. Seit Jahrzehnten leben die Menschen im Revier zwischen Mönchengladbach, Köln und Aachen mit den Segnungen und dem Fluch der Braunkohle. Kohle bedeutete Wärme, und eine rotierende Trommel, welche die Wäsche sauber wirbelte, bedeutete vor Kohlestaub blinde Fenster, bedeutete Setzrisse im Mauerwerk. Seit 1950 frassen sich Bagger durch fünfundzwanzigtausend Hektaren Land, durch Wälder, Wiesen, Äcker, durch Dörfer, deren erste urkundliche Erwähnung mehr als ein Jahrtausend zurückliegt, mehrere zehntausend Menschen mussten den Baggern weichen. Gefördert wird die Kohle von der Firma Rheinbraun, einer Tochter des Essener Konzerns RWE, des zweitgrössten Stromanbieters Europas. Derzeit werden in drei Tagebauen jährlich etwa hundert Millionen Tonnen Braunkohle gefördert. Und es geht weiter: Da die Kohlevorkommen im Tagebau «Garzweiler» in absehbarer Zeit erschöpft sein werden, genehmigte das zuständige Bergamt 1997 den von RWE Rheinbraun präsentierten Plan für den Anschlusstagebau «Garzweiler II» - gegen den massiven Protest von Umweltschützern und der ansässigen Bevölkerung. Für die Kohle werden noch einmal siebentausendsechshundert Menschen und mit ihnen achtzehn Dörfer und Weiler weichen müssen.

Hier am Niederrhein fegt der Wind ungebremst über das Land, kommt er aus Westen, bringt er eine Ahnung von Meer mit sich, dreht er auf Osten, trägt er die Anstrengung einer Technik, die keinen Achtstundentag kennt. Nachts liegt man wach, das Ächzen der Metallgelenke, das Quietschen der Förderbänder rieseln durch das Fenster, das nicht mehr richtig schliesst. Kleine Schäden bessert hier niemand mehr aus. Das Nichts kommt näher, liegt jetzt vierhundert Meter Luftlinie östlich von Otzenrath, das als erstes Dorf in drei bis vier Jahren weichen muss. Einige Kilometer weiter entsteht ein neues Dorf, das man, weil eine Ähnlichkeit mit dem alten zu behaupten schamlos wäre, Neu-Otzenrath nennt. Die Umsiedlung hat längst begonnen, die Menschen haben Haus und Grund an Rheinbraun verkauft, haben ein letztes Mal die Jalousien heruntergelassen, die Haustür geschlossen. Sie fuhren los, im Konvoi der Umzugswagen, ohne einen Blick für die reifen Kirschen im Garten, für das Gras, das im Vorgarten schon knöchelhoch stand. Es gingen die Kleinhändler, Metzger und Bäcker machten die Läden zu, die Sparkasse schloss ihre Filiale, und die Raiffeisenbank tat es ihr gleich und ersetzte die Angestellten durch einen im Vorraum der ehemaligen Schalterhalle postierten Automaten.

Stiller Nachmittag, nur die Hitze sirrt in den Strassen wie eine Starkstromleitung. Hinter der Mauer aus rotem Ziegelstein, die das Rittergut und den anschliessenden Park begrenzt, stehen die Tiere im löcherigen Schatten, den eine hochgewachsene Pappel wirft: Rinder, vom Sommerregen sauber gewaschen, Pferde, einen Kranz aus Fliegen um die glänzenden Augen. Hinter der Pferdekoppel wachsen Rosenblüten, gross wie Kinderköpfe, durch das zerborstene Glas der Gewächshäuser. Manchmal schüttelt eines der Tiere den Kopf im aussichtslosen Kampf gegen die Fliegen, ein Pferd taucht seine weichen Lippen in eine mit Wasser gefüllte alte Badewanne. Über dem Park des Ritterguts, jenseits der hohen Mauer, kreist ein Falke, mit unbestechlichem Auge.

Hör mal, sagen sie, wie man hier häufig einen Satz beginnt mit diesem Hörmal, als gäbe es Unerhörtes zu sagen, hör mal, in der Nordstrasse hat Rheinbraun ein Haus abgerissen. Am Nachbarhaus kleben noch die Badezimmerfliesen. Und was'n Dreck. Zentimeterdick lag den Tauben der Staub auf den Federn. Die Frauen sitzen in bunten Kleidern um den runden Tisch, schieben den Geburtstagskuchen auf den Tellern hin und her, die Tür zum Garten ist einen Spalt breit geöffnet, das Panoramafenster gibt den Blick frei auf eine Voliere. Kanarienvögel stürzen mit hektischen Flügelschlägen von Ast zu Ast, durch eine arrangierte Miniaturlandschaft.

Hör mal, sagen die Frauen, ich werd nicht die Letzte sein, die geht. Sie kennen die Geschichten von Plünderern, die wie Spione durch halb verlassene Orte ziehen, mit einem trainierten Blick für Jalousien, die sich auch tagsüber nicht öffnen, für Vorgärten, wo zwischen Wegplatten aus Waschbeton Löwenzahn und Spitzwegerich stehen. Es sind Fremde, Hasardeure ohne Scham, die in jedes Haus steigen, Armaturen abschrauben, Waschbecken von der Wand lösen. Einmal stand einer schon im Flur, das Werkzeug in der Hand, verschwand, als er begriff, dass hinter den Jalousien noch Leben war.

Hör mal, sagen die Frauen, deren Kinder schon lange erwachsen sind, soll ich in meinem Alter noch mal von vorn anfangen? Haben doch alles. Haben es hier gemütlich, die Frauen, deren Kinder schon lange erwachsen sind. Ihnen steht nicht mehr der Sinn danach, Baupläne zu studieren, von Baumarkt zu Baumarkt zu laufen, Preise zu vergleichen, was kostet der Teppich, der Duschkopf, die Abzugshaube. - Im neuen Dorf bauen sie Häuser ohne Keller, kostet zu viel, Schwarzarbeiter aus Polen, aus Tschechien ziehen auf den ungefestigten Wegen durch das neue Dorf, bieten ihr Können an, weit unter Tarif, ständig ist die Polizei unterwegs auf den Baustellen. 

Hör mal, meine Freundin lässt sich jetzt ihre Lebensversicherung auszahlen. Was soll sie machen? Wer gibt schon einer alten Frau einen Kredit? Und überhaupt, wer will denn im Alter noch Schulden machen? Bei Finanzierungslücken, rät in grossväterlichem Ton eine vom Regierungspräsidium Köln edierte Umsiedlerfibel, möge sich der Bauherr auf die unentgeltliche Mithilfe von Angehörigen, Bekannten oder Nachbarn besinnen.

Hör mal, 7,5 Millionen soll Rheinbraun bezahlt haben für das Rittergut. 7,5 Millionen. Behauptet das Gerede. 7,5 Millionen. Man stelle sich vor, wie Staunen und milder Neid sich zu einem Cocktail mischen, der wie süsser Holunderlikör auf der Zunge liegt. Draussen hüpfen die Vögel in heiliger Einfalt von Ästchen zu Ästchen, durch den Türspalt dringt ihr munterer Sopran.

Anfangs, heisst es, stand das Dorf nahezu geschlossen - ein Bataillon, in Erwartung des Angriffs durch einen überlegenen Gegner. Vor der Essener Residenz der Konzernzentrale schrien sie ihre Wut heraus, mit der Fackel in der Hand marschierten sie an den Rand der Grube, diesem Nichts von gigantischem Ausmass, das zentimeterweise westwärts wandert. Umweltschützer, Kirchen, christliche Friedensgruppen lieferten die Munition, mit der sie antworten konnten auf die Argumente des Gegners. 

Von der Politik fühlten sie sich im Stich gelassen. Ein Herr Clement, erinnert sich einer, hat sich hier nie blicken lassen. Der heutige sozialdemokratische Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen ist wie seine Parteigenossen bei Tagebau-Gegnern als Kohle-Lobbyist schlecht beleumundet. Und die Grünen, in der Rolle des von den Sozialdemokraten nie ganz ernst genommenen kleinen Regierungspartners, votierten auf einem Sonderparteitag mit knapper Mehrheit für eine Fortsetzung der Koalition. Eine Verfassungsbeschwerde der Grünen-Landtagsfraktion wurde ebenso abgewiesen wie die Klagen von Umweltschützern und Kommunen. Der «Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland», kurz BUND, eine wegen ihrer Professionalität gut reputierte Pressure-Group, ging den langwierigen Weg durch die Instanzen. Nachdem das Verwaltungsgericht Aachen die Verbandsklage des BUND zurückgewiesen hatte, erklärte unlängst das Oberverwaltungsgericht Münster die geforderte Revision für zulässig.

1996, 1997 - es war die Hoch-Zeit des Protests - scherten Männer, beschäftigt bei RWE, aus der gemeinsamen Front aus; im Dorf tauchte das Gerücht auf, Rheinbraun führe schwarze Listen mit den Namen der Rädelsführer, die bei späteren Verhandlungen über eine Entschädigung für Haus und Hof abgestraft würden. Es war nie mehr als ein Gerücht, aber es zeitigte Wirkung und sabotierte den Widerstand. Die ersten Hausbesitzer begannen zu verhandeln. Der Betriebsrat von Rheinbraun setzte seine Arbeiter in Bewegung, liess sie mit handgemalten Plakaten und der Losung «Ihr nehmt uns die Arbeit weg» durch die Strassen von Otzenrath paradieren. Es war wohl der schlimmste Angriff auf den sozialen Frieden im Dorf. Im Dezember 1997 erteilt das Bergamt Düren die Zulassung für den Betriebsplan Garzweiler II. Rheinbraun beginnt, Angestellte in die Frührente zu entlassen.

Unter einem halb vertrockneten Pflaumenbaum stehen Schafe und reiben ihren Rücken am schrundigen Stamm. Weiter draussen, wo die Felder nicht enden, Wind wie ein feinzinkiger Kamm durch das reifende Getreide fährt, rumpelt ein Traktor über die mit Bauschutt gefüllten Schlaglöcher. Ein Rebhuhn flieht ins Rübenblattdickicht. Sie haben den Mund voll Staub, die Männer auf dem federnden Sitz hinter dem Lenkrad. Sie reden nicht viel, der Ertrag spricht für sich. Das hier ist guter Boden. Neunzig, manchmal gar fünfundneunzig Punkte. Sagen sie ehrfürchtig, als murmelten sie ein Tischgebet: Und segne, was du uns bescheret hast . . .
Seine Frau hat ihn nach den Himbeeren geschickt. Also zieht er, einen Eimer in der Hand, los, die Strasse hinunter, am Haus vorbei, dessen Bewohner gegangen sind. Das Haus mit seinen heruntergelassenen Jalousien scheint zu vibrieren von unerledigten Geschichten, die sie zurückgelassen haben, mitsamt der Badewanne, der Einbauküche. Er öffnet das Tor zum Garten, sechshundert Quadratmeter, Reihen von Buschbohnen, Karotten, Zwiebeln, deren derbe Halme wie krumme Finger aus dem krustigen Boden zeigen. In dieser Landschaft aus Nutzpflanzen stehen, wie schmucklose Stelen, die Bienenkörbe. Vor ihrer Öffnung tanzen die Bienen in verlässlicher Choreographie. Seit vierzig Jahren hält er Völker, in fetten Jahren waren es bis zu sechs; er sah die Tiere sterben, am Ende einer Saison, sah sie auch verenden unter dem Frass der Milben. In all den Jahren aufmerksamen Studiums kam er den Geheimnissen ihres Soziallebens näher, mehr noch beeindruckte ihn der Fleiss der Tiere, dieses Niemals-müde-Werden. Im Herbst erntete er - und vielleicht erschien es ihm zuweilen wie ein Frevel - die Früchte ihrer Anstrengung. Nach einem guten Sommer fiel ihm manchmal der Honig zentnerschwer zu.

Im neuen Dorf, wo er halbherzig, nur vom Verstand in Bewegung gesetzt, ein Grundstück wählte, ist kein Platz für Bienen. Im neuen Dorf, dem fast die Luft ausgeht, eingeklemmt zwischen Bahngleisen und Autobahn, ist kein Platz für das monotone Blöken eines Schafbocks, dem der getrocknete Schlamm wie Vorhangquasten aus dem Pelz hängt. Kein Platz für einen Taubenschlag, für einen Hahn mit seiner duckmäuserischen Hühnerschar. Höfe werden fehlen, das Traktorengebrumm, die Mähdrescher, die in Spätsommernächten mit ihren Scheinwerfern eine Leuchtspur durch das Dunkel über den Feldern ziehen...


Den kompletten NZZ-Beitrag findet man ----->hier ...

...absolut lesenswert!!! 










































...Ende...

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