Immerath (Erkelenz)...das Ende naht...01.05.2015...VII. /
"Vor dem Verschwinden"...
...abschließende Fortsetzung der kleinen Rundgangs-Bilderserie vom 01.05.2015...
Bei der Suche nach Informationen über Immerath bin ich dann noch auf einen ein wenig älteren Artikel in der NZZ gestoßen...
...den ich wirklich in Gänze lesenswert finde...betreffend direkt zwar Otzenrath...aber sicherlich sehr gut das Dilemma einer sog. "Umsiedlung" -auch in Immerath- beschreibend...
Vor dem Verschwinden
Sonntags kommen die Fremden und bestaunen das Nichts. Sie kommen aus
den Städten, wo die Sonntage noch unerträglicher sind als die Werktage,
sie kommen aus Mönchengladbach, aus Aachen, sie kommen von jenseits der
nahen Grenze, aus Holland, kommen im Familienwagen...
14.9.2002
Sonntags kommen die Fremden und bestaunen das Nichts. Sie kommen aus den Städten, wo die Sonntage
noch unerträglicher sind als die Werktage, sie kommen aus Mönchengladbach, aus Aachen, sie kommen von jenseits
der nahen Grenze, aus Holland, kommen im Familienwagen, in klimatisierten Bussen. Sie laufen über den rissigen
Lehmboden, vorbei an Pumpstationen, die Lärmfanfare der nahen Autobahn wischt über das Land. Dann stehen sie,
mit blassen Stadtbeinen, zwischen Kamille und Kletten, am Rande des Nichts.
Hier am Niederrhein kommt die Landschaft ohne Extravaganzen aus, ist flach wie ein ausgerollter
Hefeteig. Die einzige Erhebung weit und breit - eine Abraumhalde; sie liegt zwischen Kartoffel- und
Rübenfeldern wie ein wütender Meteorit. In einem gigantischen Loch, etwa zwanzig Quadratkilometer lang und
breit, arbeitet in einer Tiefe von zweihundert Metern Tag und Nacht ein Schaufelradbagger, von dem es heisst,
er sei der grösste der Welt. Zweihundertvierzig Meter lang, fast einhundert Meter hoch, tägliche
Förderleistung: zweihundertvierzigtausend Kubikmeter, so beisst er sich durch Sand, Kies und Löss. Am Horizont
stehen Kohlekraftwerke, Dampf steigt aus den Schloten, steigt wie eine geballte Faust gegen den Himmel von
verwaschenem Blau. Seit Jahrzehnten leben die Menschen im Revier zwischen Mönchengladbach, Köln und Aachen mit
den Segnungen und dem Fluch der Braunkohle. Kohle bedeutete Wärme, und eine rotierende Trommel, welche die
Wäsche sauber wirbelte, bedeutete vor Kohlestaub blinde Fenster, bedeutete Setzrisse im Mauerwerk. Seit 1950
frassen sich Bagger durch fünfundzwanzigtausend Hektaren Land, durch Wälder, Wiesen, Äcker, durch Dörfer, deren
erste urkundliche Erwähnung mehr als ein Jahrtausend zurückliegt, mehrere zehntausend Menschen mussten den
Baggern weichen. Gefördert wird die Kohle von der Firma Rheinbraun, einer Tochter des Essener Konzerns RWE, des
zweitgrössten Stromanbieters Europas. Derzeit werden in drei Tagebauen jährlich etwa hundert Millionen Tonnen
Braunkohle gefördert. Und es geht weiter: Da die Kohlevorkommen im Tagebau «Garzweiler» in absehbarer Zeit
erschöpft sein werden, genehmigte das zuständige Bergamt 1997 den von RWE Rheinbraun präsentierten Plan für den
Anschlusstagebau «Garzweiler II» - gegen den massiven Protest von Umweltschützern und der ansässigen
Bevölkerung. Für die Kohle werden noch einmal siebentausendsechshundert Menschen und mit ihnen achtzehn Dörfer
und Weiler weichen müssen.
Hier am Niederrhein fegt der Wind ungebremst über das Land, kommt er aus Westen, bringt er eine
Ahnung von Meer mit sich, dreht er auf Osten, trägt er die Anstrengung einer Technik, die keinen Achtstundentag
kennt. Nachts liegt man wach, das Ächzen der Metallgelenke, das Quietschen der Förderbänder rieseln durch das
Fenster, das nicht mehr richtig schliesst. Kleine Schäden bessert hier niemand mehr aus. Das Nichts kommt
näher, liegt jetzt vierhundert Meter Luftlinie östlich von Otzenrath, das als erstes Dorf in drei bis vier
Jahren weichen muss. Einige Kilometer weiter entsteht ein neues Dorf, das man, weil eine Ähnlichkeit mit dem
alten zu behaupten schamlos wäre, Neu-Otzenrath nennt. Die Umsiedlung hat längst begonnen, die Menschen haben
Haus und Grund an Rheinbraun verkauft, haben ein letztes Mal die Jalousien heruntergelassen, die Haustür
geschlossen. Sie fuhren los, im Konvoi der Umzugswagen, ohne einen Blick für die reifen Kirschen im Garten, für
das Gras, das im Vorgarten schon knöchelhoch stand. Es gingen die Kleinhändler, Metzger und Bäcker machten die
Läden zu, die Sparkasse schloss ihre Filiale, und die Raiffeisenbank tat es ihr gleich und ersetzte die
Angestellten durch einen im Vorraum der ehemaligen Schalterhalle postierten Automaten.
Stiller Nachmittag, nur die Hitze sirrt in den Strassen wie eine Starkstromleitung. Hinter der
Mauer aus rotem Ziegelstein, die das Rittergut und den anschliessenden Park begrenzt, stehen die Tiere im
löcherigen Schatten, den eine hochgewachsene Pappel wirft: Rinder, vom Sommerregen sauber gewaschen, Pferde,
einen Kranz aus Fliegen um die glänzenden Augen. Hinter der Pferdekoppel wachsen Rosenblüten, gross wie
Kinderköpfe, durch das zerborstene Glas der Gewächshäuser. Manchmal schüttelt eines der Tiere den Kopf im
aussichtslosen Kampf gegen die Fliegen, ein Pferd taucht seine weichen Lippen in eine mit Wasser gefüllte alte
Badewanne. Über dem Park des Ritterguts, jenseits der hohen Mauer, kreist ein Falke, mit unbestechlichem
Auge.
Hör mal, sagen sie, wie man hier häufig einen Satz beginnt mit diesem Hörmal, als gäbe es
Unerhörtes zu sagen, hör mal, in der Nordstrasse hat Rheinbraun ein Haus abgerissen. Am Nachbarhaus kleben noch
die Badezimmerfliesen. Und was'n Dreck. Zentimeterdick lag den Tauben der Staub auf den Federn. Die Frauen
sitzen in bunten Kleidern um den runden Tisch, schieben den Geburtstagskuchen auf den Tellern hin und her, die
Tür zum Garten ist einen Spalt breit geöffnet, das Panoramafenster gibt den Blick frei auf eine Voliere.
Kanarienvögel stürzen mit hektischen Flügelschlägen von Ast zu Ast, durch eine arrangierte
Miniaturlandschaft.
Hör mal, sagen die Frauen, ich werd nicht die Letzte sein, die geht. Sie kennen die Geschichten
von Plünderern, die wie Spione durch halb verlassene Orte ziehen, mit einem trainierten Blick für Jalousien,
die sich auch tagsüber nicht öffnen, für Vorgärten, wo zwischen Wegplatten aus Waschbeton Löwenzahn und
Spitzwegerich stehen. Es sind Fremde, Hasardeure ohne Scham, die in jedes Haus steigen, Armaturen abschrauben,
Waschbecken von der Wand lösen. Einmal stand einer schon im Flur, das Werkzeug in der Hand, verschwand, als er
begriff, dass hinter den Jalousien noch Leben war.
Hör mal, sagen die Frauen, deren Kinder schon lange erwachsen sind, soll ich in meinem Alter noch
mal von vorn anfangen? Haben doch alles. Haben es hier gemütlich, die Frauen, deren Kinder schon lange
erwachsen sind. Ihnen steht nicht mehr der Sinn danach, Baupläne zu studieren, von Baumarkt zu Baumarkt zu
laufen, Preise zu vergleichen, was kostet der Teppich, der Duschkopf, die Abzugshaube. - Im neuen Dorf bauen
sie Häuser ohne Keller, kostet zu viel, Schwarzarbeiter aus Polen, aus Tschechien ziehen auf den ungefestigten
Wegen durch das neue Dorf, bieten ihr Können an, weit unter Tarif, ständig ist die Polizei unterwegs auf den
Baustellen.
Hör mal, meine Freundin lässt sich jetzt ihre Lebensversicherung auszahlen. Was soll sie machen?
Wer gibt schon einer alten Frau einen Kredit? Und überhaupt, wer will denn im Alter noch Schulden machen? Bei
Finanzierungslücken, rät in grossväterlichem Ton eine vom Regierungspräsidium Köln edierte Umsiedlerfibel, möge
sich der Bauherr auf die unentgeltliche Mithilfe von Angehörigen, Bekannten oder Nachbarn
besinnen.
Hör mal, 7,5 Millionen soll Rheinbraun bezahlt haben für das Rittergut. 7,5 Millionen. Behauptet
das Gerede. 7,5 Millionen. Man stelle sich vor, wie Staunen und milder Neid sich zu einem Cocktail mischen, der
wie süsser Holunderlikör auf der Zunge liegt. Draussen hüpfen die Vögel in heiliger Einfalt von Ästchen zu
Ästchen, durch den Türspalt dringt ihr munterer Sopran.
Anfangs, heisst es, stand das Dorf nahezu geschlossen - ein Bataillon, in Erwartung des Angriffs
durch einen überlegenen Gegner. Vor der Essener Residenz der Konzernzentrale schrien sie ihre Wut heraus, mit
der Fackel in der Hand marschierten sie an den Rand der Grube, diesem Nichts von gigantischem Ausmass, das
zentimeterweise westwärts wandert. Umweltschützer, Kirchen, christliche Friedensgruppen lieferten die Munition,
mit der sie antworten konnten auf die Argumente des Gegners.
Von der Politik fühlten sie sich im Stich
gelassen. Ein Herr Clement, erinnert sich einer, hat sich hier nie blicken lassen. Der heutige
sozialdemokratische Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen ist wie seine Parteigenossen bei Tagebau-Gegnern
als Kohle-Lobbyist schlecht beleumundet. Und die Grünen, in der Rolle des von den Sozialdemokraten nie ganz
ernst genommenen kleinen Regierungspartners, votierten auf einem Sonderparteitag mit knapper Mehrheit für eine
Fortsetzung der Koalition. Eine Verfassungsbeschwerde der Grünen-Landtagsfraktion wurde ebenso abgewiesen wie
die Klagen von Umweltschützern und Kommunen. Der «Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland», kurz BUND, eine
wegen ihrer Professionalität gut reputierte Pressure-Group, ging den langwierigen Weg durch die Instanzen.
Nachdem das Verwaltungsgericht Aachen die Verbandsklage des BUND zurückgewiesen hatte, erklärte unlängst das
Oberverwaltungsgericht Münster die geforderte Revision für zulässig.
1996, 1997 - es war die Hoch-Zeit des Protests - scherten Männer, beschäftigt bei RWE, aus der
gemeinsamen Front aus; im Dorf tauchte das Gerücht auf, Rheinbraun führe schwarze Listen mit den Namen der
Rädelsführer, die bei späteren Verhandlungen über eine Entschädigung für Haus und Hof abgestraft würden. Es war
nie mehr als ein Gerücht, aber es zeitigte Wirkung und sabotierte den Widerstand. Die ersten Hausbesitzer
begannen zu verhandeln. Der Betriebsrat von Rheinbraun setzte seine Arbeiter in Bewegung, liess sie mit
handgemalten Plakaten und der Losung «Ihr nehmt uns die Arbeit weg» durch die Strassen von Otzenrath
paradieren. Es war wohl der schlimmste Angriff auf den sozialen Frieden im Dorf. Im Dezember 1997 erteilt das
Bergamt Düren die Zulassung für den Betriebsplan Garzweiler II. Rheinbraun beginnt, Angestellte in die
Frührente zu entlassen.
Unter einem halb vertrockneten Pflaumenbaum stehen Schafe und reiben ihren Rücken am schrundigen
Stamm. Weiter draussen, wo die Felder nicht enden, Wind wie ein feinzinkiger Kamm durch das reifende Getreide
fährt, rumpelt ein Traktor über die mit Bauschutt gefüllten Schlaglöcher. Ein Rebhuhn flieht ins
Rübenblattdickicht. Sie haben den Mund voll Staub, die Männer auf dem federnden Sitz hinter dem Lenkrad. Sie
reden nicht viel, der Ertrag spricht für sich. Das hier ist guter Boden. Neunzig, manchmal gar fünfundneunzig
Punkte. Sagen sie ehrfürchtig, als murmelten sie ein Tischgebet: Und segne, was du uns bescheret
hast . . .
Seine Frau hat ihn nach den Himbeeren geschickt. Also zieht er, einen Eimer in der Hand, los, die
Strasse hinunter, am Haus vorbei, dessen Bewohner gegangen sind. Das Haus mit seinen heruntergelassenen
Jalousien scheint zu vibrieren von unerledigten Geschichten, die sie zurückgelassen haben, mitsamt der
Badewanne, der Einbauküche. Er öffnet das Tor zum Garten, sechshundert Quadratmeter, Reihen von Buschbohnen,
Karotten, Zwiebeln, deren derbe Halme wie krumme Finger aus dem krustigen Boden zeigen. In dieser Landschaft
aus Nutzpflanzen stehen, wie schmucklose Stelen, die Bienenkörbe. Vor ihrer Öffnung tanzen die Bienen in
verlässlicher Choreographie. Seit vierzig Jahren hält er Völker, in fetten Jahren waren es bis zu sechs; er sah
die Tiere sterben, am Ende einer Saison, sah sie auch verenden unter dem Frass der Milben. In all den Jahren
aufmerksamen Studiums kam er den Geheimnissen ihres Soziallebens näher, mehr noch beeindruckte ihn der Fleiss
der Tiere, dieses Niemals-müde-Werden. Im Herbst erntete er - und vielleicht erschien es ihm zuweilen wie ein
Frevel - die Früchte ihrer Anstrengung. Nach einem guten Sommer fiel ihm manchmal der Honig zentnerschwer
zu.
Im neuen Dorf, wo er halbherzig, nur vom Verstand in Bewegung gesetzt, ein Grundstück wählte, ist
kein Platz für Bienen. Im neuen Dorf, dem fast die Luft ausgeht, eingeklemmt zwischen Bahngleisen und Autobahn,
ist kein Platz für das monotone Blöken eines Schafbocks, dem der getrocknete Schlamm wie Vorhangquasten aus dem
Pelz hängt. Kein Platz für einen Taubenschlag, für einen Hahn mit seiner duckmäuserischen Hühnerschar. Höfe
werden fehlen, das Traktorengebrumm, die Mähdrescher, die in Spätsommernächten mit ihren Scheinwerfern eine
Leuchtspur durch das Dunkel über den Feldern ziehen...
Den kompletten NZZ-Beitrag findet man ----->hier ...
...absolut lesenswert!!!
...Ende...
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